Raum für das Wesentliche: zum „Erkenne dich selbst!“
Erkenne dich selbst – Gnoti Seauton – stand schon vor 2500 Jahren am Giebel des Apollotempels in Delphi, der heiligsten Orakelstätte der Griechen. Das Orakel, so würde man heute sagen, war eine Lebenshilfe für Suchende, sozusagen eine psychologische Beratungsstelle für Hilfesuchende. Und diese Orakelsprüche sollten den nach Hilfe suchenden zur Selbstfindung verhelfen, zum Erkenne dich selbst – zum Werde der du bist!
Und genau das ist der Ansatzpunkt, an dem die Freimaurerei ins Spiel kommt. Denn das erste, womit ein Neuaufgenommener konfrontiert wird ist genau dieses Erkenne dich selbst und es wird ihn zeit seines Lebens nicht mehr loslassen. Erkenne dich selbst – erfordert eine gewisse Selbstkritik, Einsicht in die eigenen Fehler und die eigene Unvollkommenheit. Es will uns ein Wegweiser sein zu uns selbst. Und so gehen wir diesen Weg aus dem Dunkel zum Licht tastend und unsicher, aber nicht allein. Wir gehen ihn mit guten Freunden in brüderlicher Verbundenheit. Und wenn wir wirklich mit offenen Augen unterwegs sind werden wir erkennen, dass wir in einem großartig geordneten Kosmos leben, in einer sinnvoll regierten Welt, voller Weisheit, Stärke und Schönheit.
Natürlich muss man nicht Freimaurer werden um sich selbst zu erkennen, um zu sich selber zu finden, aber es ist mit Sicherheit hilfreich. Die Freimaurerei setzt sich ein für die Achtung der Würde eines jeden Menschen, für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, für Humanität, Toleranz und Brüderlichkeit. Demnach ist eine Freimaurerloge ein geschützter Raum, in dem man sich ungeschminkt, ohne Maske und ohne eine Rolle zu spielen im Kreise der Brüder frei und ungezwungen bewegen kann. Hier kann man sich zurücknehmen und die Seele baumeln lassen. Hier keimt fruchtbare geistige Bildungsarbeit, bei der jeder von jedem partizipiert – der handwerklich gebildete vom Intellektuellen und in umgekehrter Weise ebenso. Jeder bringt sich gemäß seiner Fähigkeiten und Möglichkeiten ein – befruchtet und empfängt. Und um es mit Goethes (1749-1832) Worten auszudrücken:
„Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“
In einer Loge steht das ehrliche und offene Gespräch im Vordergrund. Denn Offenheit und Ehrlichkeit sind die Basis für das brüderliche Miteinander. Was ein Bruder einem anderen in der Loge anvertraut wird vertraulich behandelt und nicht der Öffentlichkeit preisgegeben – es gilt: Vertrauen gegen Vertrauen. Hier ist nicht nur Platz für Gemeinsamkeiten, nein, hier ist auch ein Rückzugsort für Entspannung und meditative Arbeit. Es herrscht eine vorbildliche Streitkultur und dennoch haben auch die allzumenschlichen Mimositäten ihren Platz. Hilfsbereitschaft wird groß geschrieben und nimmt einen breiten Raum ein. Jung und Alt kommunizieren hier bereitwillig miteinander und es entsteht ein wunderbares geistiges Konglomerat, eine interessante und vielfältige Mischung von ermutigender Brillanz.
Juni 2010, Rudolf Schneider, MvSt.