Als sich 1717 in London zum ersten Mal Freimaurerlogen zu einer Großloge zusammenschlossen, konkretisierte sich etwas, was sich schon über Jahrzehnte vorbereitet hatte, als zu den gebildeten Architekten und Künstlern der spätmittelalterlichen Dombauhütten geistig wache Männer aus Adel, Militär und dem aufstrebenden Bürgertum stießen. Es waren intelligente und engagierte Männer, die die harmonischen Gesetze und Proportionen des Kathedralenbaus auf den Menschen anwendeten, auf sein Leben und das Miteinander in der Gesellschaft. Der nach außen geschlossene Rahmen der Bauhütte gab ihnen die Möglichkeit, dass zu dieser Zeit Neue und Unerhörte, nämlich: Leben auf gleicher Ebene, Demokratie und Toleranz nicht nur zu denken, sondern auch durchzusprechen und, zumindest in ihrem Kreis, zu leben. Diese Männer waren die endlosen gewalttätigen Auseinandersetzungen wegen konfessioneller und politischer Differenzen satt. Sie konzentrierten sich auf den schwierigeren, aber auf Dauer einzig Erfolg versprechenden Ansatz: Nicht den Anderen zu ändern oder zu überreden, sich anzupassen, sondern vornehmlich an sich selbst zu arbeiten.
Wenn – so der Ansatz – jeder bei sich selbst für Toleranz, Humanität, Menschlichkeit sorgt und diese Einstellung ausstrahlen lässt, dann verbessert sich das menschliche Miteinander auch im Großen. Das Leben für alle wird lebenswerter und das Leid, das die unerbittlichen Auseinandersetzungen mit sich bringen, wird eingedämmt.
…
Regeln der „Alten Pflichten“
Recht sehr zu wünschen… und einfach in der Theorie, aber diese geistige und moralische Elite nahm auch die reale Herausforderung an und verabredete sechs Jahre später in den „Alten Pflichten“ einige wesentliche und zu dieser Zeit gar nicht so selbstverständliche Regeln als für sich verbindlich.
- Jedes Logenmitglied ist menschlich gleichwertig, unabhängig aus welchem Stamm es stammt, wie viel Eigentum es besitzt oder wie viel Macht es ausüben kann. Humaner Wert entsteht allein durch persönlichen Verdienst, Anstrengung, Vorbildfunktion,
- Jedem wird seine individuelle Glaubensrichtung und politische Meinung belassen. Über Glauben und Tagespolitik gibt es keinen Streit in der Loge. Niemand wird missioniert, weder religiös noch politisch. Re-Ligio als ethische Rück-Bindung an etwas Höheres aber wird als wesentlich für Humanität definiert und von jedem erwartet.
- Die verwendeten Symbole und Rituale aus den Bauzünften sprechen den Menschen nicht nur rational, sondern auch über Herz und Gefühl an und unterstützen seine Entwicklung in Richtung Humanität, Toleranz und Mitmenschlichkeit.
Einfache und klare Spielregeln, verbunden mit dem Vertrauen in die Geschlossenheit einer Gruppe, in der niemand für noch unausgereifte Gedanken angegriffen oder gar denuziert wird. Diese Kombination erwies sich in der Endphase absolutistischer Staaten als äußerst attraktiv. Explosionsartig verbreiteten sich Freimaurerlogen im gesamten europäisch geprägten Kulturkreis. Sie zogen die wachen und unruhigen Geister der Zeit an und wurden so auch Nährboden und Tauschbörse für neue Vorstellungen vom menschlichen Miteinander.
…
Was kann die Freimaurerei dem Einzelnen bieten?
Das ruhige Wort mit dem Bruder hilft, die eigene Meinung zu überprüfen und das Erlebnis im Ritual spricht neben dem Verstand auch Herz und Gefühl an, um das tägliche Leben an Ethik und Moral auszurichten. Der Bezug auf ein höheres Wesen – ohne konkrete religiöse Festlegungen – schützt uns vor Hybris gegenüber Schöpfung, Mitmenschen und Nachwelt.
Dies alles wird verpackt in ein System von Allegorien und Gleichnissen, die einzelne Situationen des Lebens plastisch und nachfühlbar darstellen, und ist verbunden mit alten Erfahrungen aus den Maurerzünften und anderen alten Bruderschaften, die uns über die Zeiten hinweg deuten, was richtig und falsch ist im menschlichen Verhalten.
Freimaurer haben den Menschen und Gesellschaften seit fast 300 Jahren viele wertvolle Inhalte anzubieten. Nehmen wir nur als kleines Beispiel das Symbol, mit dem jeder neue Freimaurerlehrling ganz zu Beginn in Berührung kommt und das ihn sein Leben lang nicht mehr verlassen wird: der raue, unbehauene Stein. Für den Werkmaurer war er das Rohmaterial, aus dem er einen Baustein der Kathedrale oder ein Kunstwerk erstellen wollte. Heute stellt er uns selber als Menschen in unserer Unvollkommenheit dar und weist uns die handgreiflich spürbare Aufgabe zu, an unserer Person zu arbeiten und uns ethisch zu vervollkommnen.
…
Freimaurerei ist Aufforderung zur Arbeit – zuerst an uns selbst.
Jeder von uns, wie weit er gesellschaftlich, beruflich und sozial auch im Laufe seines Lebens gekommen ist, kennt seine eigenen Fehler und weiß, dass er nicht vollkommen ist.
Vor dem Hintergrund der ur-freimaurerischen Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im humanen Miteinander stellt Freimaurerei eine ethische Pflichtenlehre dar, die immer wieder betont, dass Freiheit nicht ohne Verantwortung auskommt. Verantwortung ist hier verstanden sowohl gegenüber dem Mitmenschen als gegenüber zukünftigen Generationen und der Umwelt. Grenzenlose Freiheit ohne Bindungen, ohne Pflichten, ohne Ethik zerstört jede Gemeinschaft. Zu jeder Zeit ist es wieder neu nötig, Rechte und Pflichten auszutarieren, damit der Einzelne sich entfalten kann und gleichzeitig die Gemeinschaft und die Zukunft nicht Schaden nimmt.
Freimaurerei ist keine Religion und auch kein Religionsersatz, sehr wohl aber ein ethisch ausgerichteter Bund, der von seinen Mitgliedern tolerantes und rücksichtsvolles Verhalten fordert – untereinander und auch im alltäglichen Leben, im Rahmen von Familie, Beruf und Gesellschaft. Freimaurerei ist weder Partei noch politische oder gesellschaftliche Interessenvertretung, sehr wohl aber politisch in ihrer grundsätzlichen Forderung nach Anstand im Verhalten, nach Geradlinigkeit in Inhalten und gleichzeitig nach Bereitschaft zum Kompromiss in der Durchführung.
…
Freimaurerei ist Aufforderung zur Arbeit – auch in der Gesellschaft!
Dem Wesen der Freimaurerei widerspricht es, als Organisation Stellung zu beziehen in religiösen oder tagespolitischen Auseinandersetzungen. Sehr wohl aber findet der einzelne Freimaurer, in der Loge Gesprächspartner bei Fragen der Ethik und der eigenen moralischen Standortbestimmung. In den Ritualen und mit Hilfe der alten Symbole kann er, wie wir gerne sagen „die ethischen und moralischen Batterien aufladen“ und dann wieder eigenverantwortlich in seinem menschlichen, gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Umfeld handeln. Dieses Handeln in der Gesellschaft, in der Familie, am Arbeitsplatz, ist das, woran man den Freimaurer erkennen sollte.
Denn wer das angenehme einer offenen und vertrauensvollen Atmosphäre im Bruderkreis der Loge zu schätzen gelernt hat, wird gerne versuchen, etwas davon in sein tägliches Leben mitzunehmen, um sich dort ähnlich zu verhalten. So gesehen ist die Loge eine ethische Lebensschule, die den Einzelnen ertüchtigt, sein Leben verantwortungsbewusst, also human zu gestalten.
Die Loge dient hierbei als Ort der Kommunikation, des Austauschs von Erfahrungen und Gedanken, des Abprüfens von Ideen und Einstellungen. Gleichzeitig stellt sie mit ihren gesellschaftlichen Veranstaltungen einen Ort der Geselligkeit dar. Und durch Rituale und Symbole sind zusätzlich unsere Emotionen betroffen. Diese ganzheitliche Ansprache bewirkt sowohl, dass die meisten Brüder wirklich – wie es ja auch vorgesehen ist – lebenslang Mitglied ihrer Loge sind als auch, dass viele Logen stabil und über lange Zeit in ihrem Umfeld eine aktive und positive Rolle spielen.
…
Heutige Anforderungen und Ausblick
Die Art, wie wir uns und unsere Gesellschaft derzeit großenteils organisieren, kann nun wirklich nicht nachhaltig genannt werden. Tempo und Druck im Beruf, aber auch in vielen selbst gewählten Beschäftigungen fordern und überfordern viele Menschen in einem Maße, dass sich als dritte große Krankheitsgruppe neben Krebs und Herz-Kreislauferkrankungen, Depression und Burn-Out-Syndrom etabliert haben. Neben Psychologen bemüht sich eine große Zahl von Lebensberatern unterschiedlicher Qualität darum, die schlimmsten Überlastungen der Folgen zu mildern.
Auch in dieser Hinsicht kann eine gute Loge viel dazu beitragen, den Menschen, den Bruder, in seiner Persönlichkeit zu zentrieren und auszugleichen. Denn vor einer bewussten ethischen Entwicklung muss die Definition des Ist-Zustandes liegen, die Selbsterkenntnis: Wer bin ich, was ist mir wichtig und wesentlich, wo liegen meine Schwerpunkte?
Zur Selbsterkenntnis gehört allerdings auch das Wissen um die Grenzen meiner Leistungsfähigkeit, im Sinne der bewussten Entscheidung, was ich tun oder auch lassen, loslassen will. Auch hierzu ist das offene Gespräch mit dem Bruder, dem Freunde, geeignet und hilfreich – vor allem, weil es durch die Übung in Verschwiegenheit innerhalb der Loge die Möglichkeit gibt, auch Schwächen vertrauensvoll anzusprechen, Grenzen zu benennen, daraus Konsequenzen zu ziehen und sich so auch menschlich weiterzuentwickeln.
Für solche Gespräche über Werte, über Wertungen in einem geschützten Kreis besteht ein großer und wachsender Bedarf. Die Kunst, in einer Ära wachsenden Zeitdrucks und zunehmender kurz getakteter Fremdbestimmung seine Zeit mit Weisheit einzuteilen, auch bewusst manchmal „nein“ zu sagen zu manchen Anforderungen, das gehört zunehmend zur Lebensqualität. Man denke nur an die fast permanente Verfügbarkeit von uns durch die neuen Medien. An dieser Stelle Anregungen, Unterstützung zu geben, vermag die Loge mit ihrer ganzheitlichen Ansprache an den Menschen sehr gut.
Und so verschieben sich im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte die Schwerpunkte freimaurerischer Arbeit in der Gesellschaft: von der Verbreitung der Aufklärung und der Hilfe beim Erdenken und Erproben neuer, menschen- und freiheitsgerechter Gesellschaftsformen hin auch zu Überlegungen, dass neben den Menschenrechten auch Menschenpflichten stehen müssen, damit unsere Gesellschaften zusammenhalten. Und heute können wir in den Logen Konzepte andenken, wie wir in Zeiten der Begrenzung auch andere Formen von Lebensqualität finden und entwickeln, die nicht nur ein plattes „schneller, mehr und noch mehr“ beinhalten. Im Einzelnen handelt es sich immer um die Unterstützung des Individuums, zu sich selber zu finden.